Psychotherapeutische Praxis am Rothenbaum

Aggressive Victimhood

Verweigern und Versagen als Ausdruck verdeckter Aggression.
Befunde – Diagnostik – Veränderungsansätze.


1. Einleitung

Moderne Zeiten und gesellschaftliche Veränderungen bringen Verlierer hervor; unterlegen zu sein, erzeugt aggressive Spannung und Wut. Im antiken Rom fühlte sich die misera plebs, das einfache Volk, als Verlierer, zu Beginn der Neuzeit waren es verarmte Bauern, die sich als Verlierer sahen. Im 19. Jhd. waren es weitgehend rechtlose Lohnarbeiter, in Folge des Wandels zur Informationsgesellschaft zeigen sich in Nordamerika und Westeuropa, aber auch weltweit, seit Anfang der neunziger Jahre verstärkt Tendenzen, sich als Modernisierungsverlierer zu sehen. Makrokosmisch trifft dieser Befund auf das Anwachsen fundamentalistischer Tendenzen im Islam, aber auch im Christentum und Judentum zu. Mikrokosmisch sehen wir dies entsprechend in ehelicher Partnerschaft, aber auch in betrieblichen Abläufen, in Schulklassen wie in Arztpraxen. Die Reaktion auf drohende Niederlagen, auf den Verlust von Autonomie und eigenen Standards ist symptomatisch immer gleich. Jeder Fundamentalist weltweit erlebt sich als Verlierer, als Opfer einer überkomplexen, undurchschaubaren Moderne. Exakt analog erleben sich aber auch der existenzbedrohte Mittelständler, die uninteressant gewordene Ehefrau, die unterbeschäftigte Sekretärin und der jugendliche Arbeitslose als Opfer moderner Zustände, deren Gesetze sie nicht verstehen.

Unsere klinischen Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre haben gezeigt, dass es makrokosmisch wie mikrokosmisch immer um eine subjektiv erlebte Bedrohung der existentiellen Cluster Autonomie, Authentizität und Autarkie geht. Die Reaktion darauf ist kollektiv wie individuell gleich: aggressive Spannung. Die Resultante dieses Prozesses, der weitgehend unbewusst abläuft, ist die Selbstwahrnehmung als Opfer einer ungerechten Gesamtsituation, der man sich gleichzeitig wütend und passiv stellt. Symptomatisch entstehen Jammerdepression, sozialer Rückzug, psychosomatische Störungen, im betrieblichen und familiären Bereich Burn-Out-Syndrome, Mobbingvorwürfe, Frühverrentung, gelernte Hilflosigkeit und emotionale Verkapselung. Psychologisch handelt es sich im Ergebnis immer um eine regressive Verweigerungshaltung, medizinisch gesehen könnte man von einer Abszessbildung sprechen.

Im Folgenden werden wir das Thema Opfer und Aggression und die vorherrschenden Formen verdeckter Aggression und offener Passivität darstellen.

2. Die Aggressionsthematik aus psychologischer Sicht

Bekanntlich ist der Ursprung des Wortes ‚Aggression’ verdächtig harmlos, es stammt vom lateinischen Wort ‚ad gredi’ und bedeutet nichts weiter als ‚herangehen an’. Erst in der Moderne ist der Begriff Aggression häufiger verwendet worden: zunächst für kriegerische Entwicklungen, später auch im eigentlich psychologischen Sinne als gewalttätiges Eingreifen. Die Auseinandersetzung mit dem Faschismus führte in den sechziger Jahren zu verstärkter wissenschaftlicher und öffentlicher Aufmerksamkeit für menschliche Destruktivität und Aggression; neben psychologische traten auch soziologische Erklärungsmuster, vor allem aber auch verhaltensbiologische durch die Arbeiten von Konrad Lorenz und Eibl-Eibelsfeld. Ab Anfang der siebziger Jahre ging dieses Interesse wieder zurück; als kluge Einführung in die Thematik ist die Publikation von Bach und Goldberg anzusehen, die seit den siebziger Jahren immer wieder aufgelegt wird. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Bereich offen aggressiven Verhaltens in den letzten dreißig Jahren nicht im Fokus der wissenschaftlichen Debatte steht. Die Forschung hat sich zum einen mit Behandlungskonzepten für aggressiv-dissoziale Störungen beschäftigt, Literatur dazu findet sich in den Arbeiten von Petermann (2001) und Petermann und Petermann (2000). Gleichzeitig stellte sich immer stärker die Frage danach, wie mit verdeckten Formen von Aggression und Destruktivität umzugehen ist. Seit Anfang der siebziger Jahre beschäftigt sich vor allem die nordamerikanische Forschung mit der Zunahme passiver Aggressivität, die in den neunziger Jahren zum Herausarbeiten eines psychischen Störungsmusters geführt hat, das als „passive aggressive personality disorder“ Eingang in die gültigen psychopathologischen Klassifikationssysteme geführt hat (s.u.) und mittlerweile die häufigste Diagnose bei psychisch bedingten Störungen in den Abläufen großer Organisationen (Verwaltungen, Automobilindustrie, US-Armee) ist. Deutungsansätze gehen davon aus, dass dies (vielleicht schichtspezifisch?) der Response auf missglückte Anpassungsversuche bei Modernisierungsabläufen ist; der Druck einer überfordernden Political Correctness wird ebenfalls erwogen.

3. Die Entwicklung der Opferthematik

Die Untersuchung und Analyse von Opferverhalten stammt ursprünglich aus der Kriminologie. Ausgehend davon, dass bestimmte Personen immer wieder Opfer von Verbrechen wurden, hat man versucht, auf kriminologisch-psychologischer Basis Opferprofile zu entwickeln. Dies hat zu einer Fülle von Untersuchungen geführt, die zum einem victimologisch zu erfassen versuchen, was Opfer sozial und psychologisch auszeichnet. Zum anderen erwies sich als fruchtbarer Ansatz, die Victimisation, das „Zum-Opfer-gemacht-Werden“, in den Blickpunkt des wissenschaftlichen Interesses zu rücken. Beide Ansätze haben dazu geführt, dass es mittlerweile klare Distinktionen zu dem Konstrukt „Opfer“ im Bereich der kriminologischen und psychologischen Forschung gibt. Aus dem deutschsprachigen Bereich nennen wir hier die Arbeiten von Arenz-Greiving (1990), Breitenfeld (1994) und Schindler (2001).

Ein weiterer Impuls zur Debatte der Täter-Opfer-Thematik entstand Anfang der neunziger Jahre durch das Aufgreifen des Mobbing-Konstrukts, das sowohl auf verhaltensbiologische wie sozialpsychologische Überlegungen der siebziger Jahre zurückgeht. Die Mobbingthematik hat seit Beginn der neunziger Jahre breites öffentliches Interesse gefunden, bietet sie doch ein griffiges Instrument, um subjektive Betroffenheit bei institutionellen und betrieblichen Veränderungen zu thematisieren; darüber hinaus ist sie zu einem wesentlichen Thema von Personalentwicklung geworden. Überdies ist Mobbingverdacht und Mobbingfurcht ein wesentlicher Anteil des Klagespektrums von Patienten geworden, die wir als Psychotherapeuten behandeln. Natürlich ist dies ein sehr heikles Thema, da auch wir als Psychotherapeuten mit tatsächlichen Mobbingsituationen unserer Patienten sehr behutsam umgehen müssen; gleichzeitig ist nicht von der Hand zu weisen, dass andererseits psychische Störungen wie Depression und Angst sich als Mobbingverdacht mit resultierenden Machtlosigkeitsgefühlen äußern. Einen guten Überblick zu der Thematik bietet die Arbeit von Barnitzki (1996).

4. Psychologische Erklärungsansätze in zeitlicher Folge

4.1 Identifikation mit dem Aggressor a)

Das Konzept der Identifikation mit dem Aggressor wurde in den dreißiger Jahren entwickelt und geht begrifflich auf Anna Freud, die Tochter Siegmund Freuds, zurück. Ausgehend von Beobachtungen an Schülern, die aggressiv „ausrasteten“, gelangte sie zu der Einsicht, dass es sich hierbei um einen Identifizierungsprozess mit der als mächtig geglaubten Person des Lehrers handelte. Die Schüler, die Anna Freud beobachtete, zeigten Impulsdurchbrüche, fingen plötzlich an zu schreien, zu toben, lieferten sich lautstarke Wortgefechte. Es zeigte sich bei der Analyse dieses Verhaltens, dass es sich dabei um ein Imitieren des Lehrerverhaltens handelte. Die ursprünglich unerklärlichen Impulsivitätsdurchbrüche ließen sich zwanglos dem Verhalten der jeweiligen Lehrer zuordnen, die mit Drill und Kasernenhofton die Schüler erzogen. Teilweise waren die Übereinstimmungen so deutlich, dass es fast karikaturesk wirkte. Diese Identifizierung mit dem Aggressor, dem mächtigen Anderen, ist auch heute in schulischen und familiären Bereichen geläufig; man denke an das Verhalten älterer Geschwister jüngeren gegenüber, die bis in die Wortwahl hinein die scheltende Mutter oder den ungeduldigen Vater imitieren. Wichtig dabei ist, dass diese Identifizierung mit dem mächtigen / aggressiven Anderen weitgehend unbewusst abläuft. Wenn ein Kind oder ein Erwachsener darauf hingewiesen wird, dass er in seinen aggressiven Äußerungen doch jemand anderen imitiere, ist er oder sie in der Regel verblüfft und irritiert, meist wird geleugnet. Das Konzept der Identifikation mit dem Aggressor erweist sich bis heute als fruchtbar, wenn es um die Übernahme aggressiven Verhaltens vor allem bei Jugendlichen geht. Hier zeigt sich auch heute, dass aggressiv-dissoziales Verhalten in der Regel im Rahmen einer Opfer-Täter-Identifizierung von Jugendlichen anderen abgeschaut und dann selbst ausgeübt wird.

4.1.1 Fallbeispiel 1

Ein 35-jähriger Klient, der nach der Trennung von seiner letzten Partnerin unter Panikanfällen und Symptomen einer Herzneurose leidet, beklagt seine Angst vor einer neuen Beziehung. Er beschreibt Rückzugstendenzen und Hoffnungslosigkeit.

Er hat seinen Vater als starken und durchsetzungsfähigen Mann erlebt, dem er bewundernd unterlegen war. Besonders seiner Mutter gegenüber, die er als unselbständig, hilflos und sehr klammernd wahrnimmt, hat der Vater sich durchsetzen und abgrenzen können. Dies ist diesem offensichtlich dadurch gelungen, dass er in heftigen Streitsituationen erst einmal räumliche Distanz hergestellt hat, „um dann mit klarem Kopf“ mit der Mutter zu sprechen. Die Trennung des Vaters von seiner Ehefrau (der Mutter des Klienten) kann er „total nachvollziehen“. Die zweite Frau seines Vaters beschreibt er als dynamisch, selbstbewusst und schön. Er geht davon aus, dass der Vater „endlich eine erfüllte und lang ersehnte Beziehung führt“.

Im Laufe der Arbeit wird deutlich, dass der Klient in Beziehungen zu Frauen abweisend und mit Rückzug reagiert, wenn die Partnerin Verbindlichkeit und Unterstützung einfordert. Jeder Wunsch und jede Bitte werden skeptisch auf „ihre Berechtigung“ überprüft. In vielen Fällen fühlt sich der Klient eingeengt und manipuliert. Er wittert „Dominanz und Bevormundung“. Sein Verhaltensrepertoire beschränkt sich in solchen Situationen auf Schweigen und tageweisen Kontaktabbruch, was auf Seiten der Frauen zu Trennungen führt.

Zudem hat der Klient ein „Bild von seiner Frau“ zu einem Ideal stilisiert. Die Beziehung zu seiner „Idealfrau“ bedeutet Erfüllung, Leichtigkeit und die Garantie für eine glückliche Beziehung. Er legt besonders Wert auf junge, autonome und zärtliche Frauen.

Bei der Identifikation mit dem Aggressor handelt es sich wie beschrieben um die Übernahme der Rolle des Aggressors, hier also des mächtigen Anderen, des Vaters. Die Distanzierung des Vaters im Kontakt zu seiner ersten Frau wird vom Klienten unbewusst imitiert, er selbst weiß nicht, wie nahe er dem Vater in seinem Verhalten und seinen Wünschen ist, da er sich in seinem Auftreten und seinem Lebensstil sehr nachdrücklich von seinem Vater unterscheidet. Er bleibt unschuldig und gleichsam „rein“, da er sich in seinem Verhalten als authentisch und autonom erlebt, überdies lehnt er den Vater nach außen in all dessen Lebensvollzügen ab. Der Hinweis auf die Parallelen mit dem Vater-Vorbild erzeugt Wut und Ablehnung, da die Identifizierung mit dem Aggressor letztlich geheim bleiben muss. Der Klient erlebt sich nicht als Opfer, als zwanghafter Nachahmer, sondern hat unbewusst Teil an der Macht des Vaters.

4.2 Identifikation mit dem Aggressor b)

Eine Differenzierung des Konzepts Identifizierung mit dem Aggressor brachte die vermehrte Beschäftigung mit Persönlichkeitsstörungen seit Beginn der achtziger Jahre. Es zeigte sich, dass es bei schweren Persönlichkeitsstörungen eine Identifizierung mit dem Aggressor / mächtigen Anderen gibt, bei der es nicht zu einer Imitation dessen Verhaltens kommt, sondern zu einer Vorwegnahme aggressiver Intentionen des gedachten Aggressors. Dies führte dazu, dass bei schweren Persönlichkeitsstörungen sich die Patienten unablässig mit imaginierten bösen Absichten anderer beschäftigten, in Grübelzwänge verfielen und sich verfolgt und missverstanden vorkamen. Wir können diese Problematik hier nur anreißen, verweisen aber darauf, dass in milder Form diese Art der Identifikation mit dem Aggressor in jüngster Zeit zum Massenphänomen geworden ist. Je weniger Gelegenheit gegeben ist, bzw. je mehr persönliche kommunikative Kompetenz fehlt, sich direkt auseinander zu setzen, desto mehr verfällt der oder die Betreffende in gedankliche Annahmen darüber, welche bösen Absichten der Chef, der Partner oder die Konkurrentin haben könnten. Da dieser Prozess häufig unbewusst abläuft (und unbewusst heißt, dass es eben nicht bewusst ist), führt dies oft zu quälenden inneren Dialogen, in denen sich der Betreffende mit Anklagen und Vorwürfen auseinandersetzt, von denen er denkt, dass der andere sie denke und die er im eigenen Grübeln zu widerlegen versucht. Oft geraten diese Dialoge in einen inneren Monolog, der nur noch um selbstabwertende Themen kreist.

Fallbeispiel 2

Eine etwa 40 Jahre alte Patientin berichtet von depressiven Verstimmungszuständen, unter denen sie seit langem leide. Dazu treten soziale Ängste, die sich teilweise so steigern, dass sie sich krank schreiben lassen müsse. Dies aber gefährde ihre berufliche Position, die sowieso schon schwierig genug sei, da sie sich oft überfordert fühle. Das aber dürfe niemand wissen, sie gleiche dies durch vermehrten Fleiß aus, gehe auch am Wochenende ins Büro, was aber schon aufgefallen sei. Sie fühle sich völlig ausgelaugt. Nach einigen Sitzungen äußert sie immer häufiger, dass ihre Schwierigkeiten damit zu tun hätten, dass sie gemobbt werde. Es gäbe Anzeichen dafür. Sie berichtet dann, dass man sie im Betrieb gängele, ihr nicht zuhöre, dass andere ihr vorgezogen würden. Es gäbe Gerüchte über sie, manchmal handfeste Beweise, dass etwas gegen sie im Gange sei. Natürlich stehe niemand dazu, die Vorgesetzten würden alles bagatellisieren, sie aber spüre immer mehr Feindseligkeit und gehe daran „kaputt“. Sie fühle sich als Opfer einer für sie undurchschaubaren äußeren Konstellation, sie arbeite bis zur Erschöpfung, aber niemand lohne es ihr.

4.3 Passive Aggression

Passive Aggressivität klingt zunächst wie ein Widerspruch; sie ist charakterisiert durch ein durchgängiges Muster von Verweigern und Versagen, das subjektiv mit dem Gefühl der Unschuld einhergeht. Passive Aggressivität findet sich immer dann, wenn Leistungsbereitschaft, Solidarität, Motivation und Zustimmung auf der einen Seite gezeigt werden, auf der anderen Seite im Handlungsbereich Zaudern, Verzögern, Vergessen, Schmollen und unerklärliches Zu-spät-Kommen zu beobachten sind. Menschen mit diesem Störungsmuster zeigen sich häufig unterwürfig bis hin zur Servilität, geben sich leistungsbereit und aktiv, haben aber unerklärlicherweise immer wieder das Problem, dass sie in beruflichen und privaten Zusammenhängen versagen. Der Hintergrund ist, dass Außenanforderungen in der Regel als unangemessen erlebt werden und sich der oder die Betreffende unverstanden und überfordert fühlt, aber nicht in der Lage ist, dies zu äußern. Stattdessen wird Zustimmung signalisiert, die aber nur auf der Ebene der verbalen Äußerung verbleibt - faktisch zeigt sich Leistungsverweigerung und -versagen. Dies ist in betrieblichen und familiären Abläufen in höchstem Maße störend, besonders störend aber ist, dass die Betreffenden sich selbst subjektiv unschuldig fühlen, da sie ja das Beste gewollt haben und nur leider bei der Ausführung irgendetwas dazwischen gekommen ist, was das Ganze unmöglich gemacht hat. In praktischen Zusammenhängen werden solche Menschen oft als „pain in the ass“ erlebt, die immer wieder für Störungen sorgen, aber keine Verantwortung für das Verweigern und Versagen übernehmen wollen. Werden sie darauf hingewiesen und angemahnt, ihr Verhalten zu korrigieren, erleben sie sich als unschuldig verfolgt und häufig als „gemobbt“. Wir verkennen nicht, dass es echte Mobbingfälle gibt, haben aber den Eindruck, dass es eine massive Zunahme subjektiver Betroffenheit auf dem Hintergrund passiv-aggressiven Verhaltens gibt.

4.3.1 Fallbeispiel 3

Eine 32-jährige Designerin, liiert seit 1,5 Jahren mit einem Arzt. Die Beziehung gestaltete sich von Anfang an als schwierig. Während sie, entschieden für eine Beziehung, klar ihre Zuneigung zeigte, benötigte er „Bedenkzeit“. Er begründete seine Ambivalenz mit seiner Trennung von der vorherigen Frau, die ihn „zu sehr enttäuschte“ und somit sein Vertrauen in Beziehungen zu Frauen „erschütterte“. Nach einem Urlaub schien die unsichere Situation für die Frau behoben, da er „sich einlassen“ wollte.

Seither gibt es ihrer Meinung nach viele Missverständnisse, die immer wieder zu Enttäuschungen auf ihrer Seite führen.

Es gibt die Abmachung, dass er sie in seiner Mittagspause anruft, da sie keine Möglichkeit hat, ihn während seiner Sprechstunden telefonisch zu erreichen.

Diese Abmachung wird so gut wie nie eingehalten, „da er oft im Stress ist, seinen Nachmittag organisieren muss und unangemeldet Privatpatienten dazwischen kommen.“

Sein Handy ist ausgestellt und umgeleitet auf seine Festnetzleitung: „Leider klappt dies selten, da die Tücken der Technik mir einen Streich spielen.“

Besserung lobend, entschuldigt er sich für seine Unerreichbarkeit. Er zeigt großes Verständnis für ihre Enttäuschung und beteuert, sie nicht „weiterhin verletzen zu wollen“.

Die 32-Jährige macht immer wieder die Erfahrung, dass ihr Partner Verabredungen vergisst oder ihre Wünsche aufgrund äußerer Umstände nicht erfüllen kann. Gleichzeitig beteuert er sein Interesse an ihr und begründet sein Verhalten mit unberechenbaren Geschehnissen, die nicht von ihm zu beeinflussen sind.

Die Frau bleibt in einem Gefühl der Hilflosigkeit, letztendlich der Resignation stecken und kann ihre diffuse Angst, von ihm verlassen zu werden, nicht erklären.

4.4 Aggressive Victimhood

Als vierten Bereich verdeckt aggressiven Verhaltens beschreiben wir hier das Opferdasein als Lebenskonzept: Aggressive Victimhood. Es handelt sich dabei nach unseren Studien um ein Verhaltensmuster, bei dem Denken und Fühlen der Betreffenden sich hauptsächlich mit Gedanken des Preisgegebenseins, des Nicht-Verstandenwerdens und der Ungerechtigkeit befassen. Fast immer gibt es eine reale Schädigung; die kann darin liegen, dass man erkrankt ist, der Partner fremd geht oder in beruflichen Zusammenhängen Degradierungen oder Ungerechtigkeiten stattfinden. Diese realen Schäden weiten sich aber aus zu einem Selbstbild als Opfer, das immer weiter ausgestaltet wird und mit der Zeit – da identitätsfördernd – auch aggressiv nach Außen vorgetragen wird. Klinisch-psychotherapeutisch zeigt sich dies als Jammerdepression, als klagsames Beschreiben einer ungerecht erlebten äußeren Umwelt, häufig mit Selbstanklagen verbunden. Wie in den anderen Dimensionen beschrieben, ist das subjektive Gefühl, Verlierer zu sein, vorherrschend, gleichzeitig das Empfinden, unerklärlich abhängig zu sein, sich objekthaft zu fühlen und wenig Möglichkeiten zu haben, selbstständig an den inneren oder äußeren Bedingungen etwas zu ändern, die das Opferdasein konstituieren. Klinisch zeigt sich dies fast immer als „dependent and demanding“, die Betreffenden äußern Wut und Rachewünsche gegen die schädigenden äußeren Einflüsse, denen sie aber subjektiv nichts entgegenzusetzen haben.

4.4.1 Fallbeispiel 4

Eine Frau, 47 Jahre, seit 13 Jahren mit einem Ingenieur verheiratet, gemeinsame Kinder von zehn und 12 Jahren, seit fünf Jahren wieder berufstätig als Beraterin in einer großen sozialpädagogischen Einrichtung.

Vor zwei Jahren wurde auf Wunsch des Mannes ihre Schwiegermutter im Haus aufgenommen. Die Schwiegermutter benötigt in bestimmten Lebensbereichen Unterstützung.

Die Frau leidet unter Schlafstörungen, diffusen Ängsten, Arbeitsstörungen und seit kurzem unter verschiedenen allergischen Symptomen.

Es wird deutlich: Mit dem Einzug der Schwiegermutter hat die Klientin sich kontinuierlich zurückgezogen. Sowohl ihre Schwester als auch Freundinnen werden von ihr als feindlich und ablehnend erlebt. Sie selbst kritisiert den „lockeren Lebenswandel“ einiger Frauen, die „sich mit Männern vergnügen, nur Tratsch und Geld im Kopf haben und nicht wissen, was Verantwortung und Arbeit bedeuten.“ Einladungen werden von ihr abgelehnt.

Sie hat ihre Putzfrau entlassen, da es ihrer Meinung nach sein kann, dass sie in ein bis zwei Jahren nicht mehr arbeiten wird und somit jetzt sparen muss.

Gleichzeitig erscheint ihr die Hausarbeit „wie ein Klotz am Bein“ und als „Zumutung“.

Entlastungsvorschläge ihres Mannes werden von ihr nicht angenommen. Freie Abende, Sport etc. erscheinen ihr als „lächerliches Angebot“ und Überforderung, da sie abends immer erschöpft ist. Zudem beklagt sie sich bei ihrem Mann über mangelndes Verständnis und Einfühlungsvermögen. Sie fühlt sich allein gelassen. Ihr Mann sei „hart“, da er nicht bereit ist, sie zu den Hautärzten zu begleiten. Sie zeigt ein großes Misstrauen gegenüber Medizinern, weil bisher niemand erfolgreich ihre Allergien behandelt hat.

Diese Härte macht es ihr unmöglich, zärtliche und sexuelle Gefühle für ihren Mann zu entwickeln, was ihn „noch aggressiver“ macht.

Sie fühlt sich von den Aggressionen und der Ungeduld ihres Mannes provoziert, so dass sie seit kurzem jeden Abend „dazu gezwungen wird“ ihre Fassung zu verlieren, zu schreien und zu weinen.

Zu ihrer Schwiegermutter äußert sie sich folgendermaßen: „Von der Schwiegermutter wage ich gar nicht zu erzählen. Diese Frau übersteigt Ihr Vorstellungsvermögen.“

Die Kinder erscheinen ihr als einziger Trost, was sich in den letzten Wochen auch verändert hat, da ihr Sohn heimlich raucht und ihr damit große Sorgen bereitet.

5. Der Lösungsansatz des Psychodramas

Eine differenzierte Diagnostik der Opferthematik und entsprechende Lösungsansätze und Handlungsmöglichkeiten bieten sich in besonderer Weise durch den Einsatz des Psychodramas. Psychodrama ist seit Mitte der 50-er Jahre im klinischen Bereich das unbestritten effektivste psychotherapeutische Verfahren, soweit es sich um die Erlebnisweisen des Individuums in der Gruppe und die Systemveränderungen von Gruppen handelt. Neben dem klinisch-psychotherapeutischen Bereich gibt es den Einsatz psychodramatischer Techniken und Methoden aber zunehmend auch im Bereich Supervision, Personalentwicklung, Organisationsentwicklung, Teambuilding und anderen. Da die oben geschilderte Entwicklung einer subjektiv mehr oder weniger deutlichen Opfer-Befindlichkeit sich nicht nur in privaten Bereichen abspielt, sondern sich immer stärker auch im öffentlichen, vor allem betrieblichen Bereich zeigt, wird ein psychodramatischer Approach nach unserer Erfahrung zunehmend fruchtbar. Wir gehen davon aus, dass der geschilderten Problematik ein pathologischer Rollentausch zu Grunde liegt, der dazu führt, dass sich die jeweils Betroffenen nicht mehr als subjekthaft Handelnde, sondern als objekthafte Opfer undurchschaubarer äußerer Kräfte erleben. Das Konzept des Rollentausches und seine psychodramatische Relevanz wird nun im Folgenden knapp dargestellt.

5.1 Der Rollentausch im Psychodrama 5.1

Der Rollentausch als psychodramatische Technik ist eingebettet in ein vielschichtiges gruppenpsychotherapeutisches Konzept, zu dem immer eine Bühne, ein Regisseur und eine Gruppe von Teilnehmern gehört. Weiterführende Literatur dazu findet sich bei Moreno (2001), Leutz (1974), Reinhard T. Krüger (1997). Der Rollentausch ist eine genial einfache Technik, die schon Kinder in ihren Spielen praktizieren. So wie ein kleines Mädchen beim Spiel mit Puppen die Mutter imitiert und ihre Rolle spielt, so wird der Rollentausch im Psychodrama als Mittel genutzt, um sich auf der Bühne in die Gefühle und das Denken eines Anderen hineinzubegeben. Praktisch bedeutet dies, dass ich auf der Bühne sowohl ich selbst bin, aber auch meine Partnerin, mein Chef oder meine Mutter sein kann. In einem lebendigen Wechsel von verschiedenen Rollen, die ich auf der Bühne spiele, gelange ich zu einer vertieften Wahrnehmung meiner inneren und äußeren Welt. Durch die Bühnensituation ist die Exploration dieser Gegebenheiten und ihrer Dynamik sehr viel direkter und effektiver, als wenn stundenlang darüber geredet wird. Jeder Teilnehmer einer Gruppe, der auf der Bühne im Rollentausch verschiedene Aspekte des eigenen Selbst ausspielt, hat dadurch die Gelegenheit zur Begegnung mit seinen äußeren und inneren Strukturen. Der Rollentausch bricht die Tendenz zum Grübeln und zu weitschweifigen Erläuterungen auf, er sorgt dafür, sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen und entsprechend neue, teilweise überraschende Elemente in sein Selbstbild aufzunehmen. Praktisch gelingt es auf der Bühne dadurch immer, eine differenzierte Betrachtung der Opferthematik herzustellen, da der Rollentausch dazu zwingt, auch die Sicht anderer – so wie sie subjekthaft erlebt wird – in das eigene Handeln auf der Bühne zu übernehmen. Der Rollentausch als Technik auf der Bühne zeigt aber auch, wie häufig es einen pathologischen Rollentausch gibt, der den oben geschilderten Fallbeispielen jeweils zugrunde liegt.

5.2 Der pathologische Rollentausch

Wir setzen die Fähigkeit zum Rollentausch prinzipiell bei jedem Menschen voraus, höchstens bei schwerst kranken Psychotikern ist er nicht mehr vorhanden. Die spielerische oder versuchsweise Übernahme anderer Rollen, das Ausprobieren und Imitieren ist eine Universalie menschlicher Kommunikation. Prinzipiell ist jeder Mensch in der Lage, sich in den jeweils Anderen hineinzuversetzen, dabei vollzieht er schon immer einen Rollentausch. Grundlage jeglicher Empathie ist mithin auch ein Rollentausch, bei dem der Andere in seinem Handeln antizipiert wird.

Ein pathologischer Rollentausch liegt immer dann vor, wenn sich in diesen Bereich der Antizipation des Anderen störende Ängste, Verdächtigungen und eigene Hilflosigkeit mischen. Es gibt dann nur noch einen bruchstückhaften Prozess, bei dem nur noch die bedrohlich-aggressiven Handlungsanteile des Anderen wahrgenommen und verarbeitet werden, das Gegenüber wird dämonisiert, wird zum Täter, zum Aggressor, allmächtig und allwissend. So unterschiedlich die oben unter 4.1 bis 4.4 geschilderten Umgangsweisen mit tatsächlicher oder nur vorgestellter fremder Aggression auch sein mögen, im Ergebnis konstituiert sich bewusst oder unbewusst die Rolle des unterlegenen Opfers, die passiv und grüblerisch oder aggressiv und fordernd ausgestaltet wird. Im Ergebnis bedeutet jede Form von Opfer ein subjektives Gefühl der Schwächung und der Machtlosigkeit, mit der daraus folgenden mehr oder weniger deutlichen Tendenz, sich für diese Viktimisierung zu entschädigen. Ein pathologischer Rollentausch dieser Art zwingt geradezu zur Kompensation; entweder leidet man stumm und psychosomatisiert, oder aber man fordert offen beleidigt die „Entschädigung des Schadens“. Wie die Beispiele zeigen, gibt es – auch persönlichkeitstypisch unterschieden – verschiedene Möglichkeiten, sich in die Opferrolle hineinzubegeben, gemeinsam ist all diesen Zuständen aber, dass es einen mächtig geglaubten Täter, eine dämonische Instanz, einen Verfolger und Aggressor gibt.

6. Veränderungsziele, Konsequenzen für die Praxis

Aus dem Geschilderten geht hervor, dass es das Ziel des psychodramatischen Handelns in den genannten Dimensionen ist, den Rollentausch als mentale Fähigkeit und erwachsene Kulturtechnologie entweder neu zu entwickeln oder zu rekonstruieren. Dies erfordert zunächst einmal im psychodramatischen Handeln auf der Bühne eine Dekonstruktion des Bösen, des feindseligen oder feindlichen Anderen. Serieller Rollentausch und die Notwendigkeit, sich immer wieder in die subjekthafte Situation hinein zu begeben, fördern die Fähigkeit, den Anderen in seiner Eigenart auch belassen zu können und ihn kennen zu lernen, anstatt ihn zu dämonisieren. Dies führt zu einer Entidealisierung des Anderen, aber auch zum Aufdecken eigener passiver Unterwerfungswünsche, was für die Betreffenden meist sehr schmerzlich ist. Gleichzeitig kommt es aber zu einer Erforschung der realen Welt, zum Herausfinden, was an dem Anderen wirklich gefährlich ist und wie man sich dem stellen kann. Eine Entdämonisierung der Realität bedeutet mithin auch, aus der Opferrolle herauszukommen und die eigene subjekthafte Welt neu zu gestalten. Wir gehen im Psychodrama davon aus, dass Menschen in der Lage sind, im Rollentausch und mit anderen psychodramatischen Techniken neue Rollenkompetenzen zu erwerben, welche die Tendenz zur Selbstviktimisierung umkehren können.

7. Literatur

Arenz-Greiving, Ingrid (Hrsg.) (1990). Sucht – Gewalt – Sexualität: Opfer und Täter in der Therapie. Freiburg. i.B.: Lambertus.

Barnitzki, Christina (1996). Mobbing am Arbeitsplatz: eine Fallstudie über Gründe für die Ausgrenzung von Kollegen aus der Opfer- und Täterperspektive.

Breitenfeld, Victoria (Mitarb.)/ Wolfgang Benz (Red.) (1994). Täter und Opfer. Dachau: Verl. Dachauer Hefte.

Krüger, Reinhard T. (1997). Kreative Interaktion. Göttingen: Vandenhoek.

Leutz, G.A. (1974). Psychodrama. Theorie und Praxis. Berlin/ Heidelberg/ New York: Springer.

Moreno, Jacob Levy (2001). Psychodrama und Soziometrie. Köln: Ed. Humanist. Psychologie.

Petermann, Franz/ Ulrike Petermann (2000): Aggressionsdiagnostik. Göttingen u.a.: Hogrefe, Verl. f. Psychologie

Petermann, Franz/ Manfred Döpfner/ Martin H. Schmidt (2001). Aggressiv-dissoziale Störungen. Göttingen u.a.: Hogrefe, Verl. f. Psychologie.

Schindler, Volkhard (2001). Täter-Opfer-Statuswechsel: zur Struktur des Zusammenhangs zwischen Viktimisierung und delinquentem Verhalten. Hamburg: Kovac.